28. Juni 2025

Falke

Mit einem Mal war er da. Saß vor der Tür. Ein kleiner Falke. Ob er sich verflogen hatte?

Titelbild für Beitrag: Falke

Etwas verloren fand er sich morgens vor der Eingangstür – ein kleiner Turmfalke. Unweit unserer St. Mauritius-Sekundarschule nistet eine Falkenfamilie. Immer wieder sind die Altvögel zu sehen, wenn sie durch ihre Wendigkeit und ihre Flugkünste auffallen und faszinieren. Unsereiner kann nicht fliegen. Und jetzt?

Neben ihrer bemerkenswerten Flugfähigkeiten und ihrer außergewöhnlichen Beweglichkeit in der Luft stehen Falken für etwas, das die Begabungen von Menschen bei weitem übertrifft. Ihre beeindruckende Sehschärfe ist Garantie dafür, dass ihre Jagd auf Beute oft Erfolg hat. Kleine Mäuse, die sich am Boden bewegen, können sie aus Hunderten Meter Höhe nicht nur sehen, sondern sogar erkennen. Faszinierend.

Lehrende sehen und erkennen im Schulalltag auch so manches: Motivierte und begeisterungsfähige Schülerinnen und Schüler, die schon am frühen Morgen bereit sind, sich auf das einzulassen, was ihnen begegnet. Andere gähnen mich an und öffnen dabei ihren Mund dabei so weit, dass jeder Zahnmediziner ihre oder seine helle Freude daran hätte. Haben manche von ihnen doch die halbe Nacht am Computer oder am Handy gezockt und dabei nicht den Schlaf abbekommen, der ihnen und anderen gutgetan hätte.

Kinder und junge Menschen nicht nur im Klassenraum während des Unterrichts im Blick zu haben, ist Gabe und Aufgabe zugleich. Nicht nur für Pädagoginnen und Pädagogen, sondern auch für die Lernenden. Wer nicht oder nicht mehr wahrgenommen wird, hat schlechte Karten. Wer aus welchem Grund auch immer übersehen wird, weil sie oder er nicht „auffällt“, hat es schwerer als jene, die sich in Szene zu setzen wissen.

„Gott sieht alles!“ „Ja, aber er petzt nicht!“ Was ich so dereinst in einer Grundschulklasse erlebt habe, weiß ich immer noch. Weil sehen und sehen nicht dasselbe sind. Ich kann jemanden beobachten und ihr oder ihm dabei das Gefühl geben, dass mein Gegenüber mir nicht entrinnen kann und ich alles uns jedes mitbekomme, was sie oder er macht und was nicht. Ein solches Verhalten macht nicht nur mir Angst.

Wer den liebevollen Blick einer Mutter oder eines Vaters auf die ihnen Anvertrauten kennt, weiß den Unterschied zum eben Genannten. Es geht nicht um Kontrolle. Schon gar nicht um Überwachung. Wenn ich auch im Schulalltag tatsächlich wahrnehme, was Sache ist, bekomme ich mit, wo selbstständiges Arbeiten machbar und möglich ist. Andererseits weiß ich dadurch auch, wenn und wo meine Unterstützung gefragt und erforderlich ist. So kann ich agieren und reagieren – je nach Bedarf und nach meinen Möglichkeiten. Genaues Hinsehen macht möglich, dass ich erkennen kann, worauf es wirklich ankommt.

Dass Schülerinnen und Schüler immer lieb sind, wissen jene, die mit ihnen zu tun haben. Im Ernst: Erwachsene schaffen das genauso wenig wie Kinder oder Jugendliche. Manches, das ich sehe, darf ich übersehen. Nicht aus Nachlässigkeit oder gar aus Bequemlichkeit. Noch weniger, weil es mir „egal“ ist. Um andere nicht zu brüskieren, bloßzustellen oder lächerlich zu machen, muss ich nicht – bildlich gesprochen - auf jeden Zug aufspringen und alles beim Namen nennen, was ich sehe und erkenne im Unterricht und in den Pausenzeiten innerhalb und außerhalb des Schulgebäudes und der Klassenzimmer. Niemand sieht stets alles. Manchmal erkenne ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Nicht nur in der Schule. Denn nicht immer ist alles so offensichtlich, wie es scheint.

Jene Erzählung aus der Bibel, die sich im Lukasevangelium bei Lk. 7, 36 – 50 findet, macht mich nachdenklich. Als Jesus im Haus eines wohlhabenden Pharisäers zum Essen eingeladen war, geschieht es: „Eine Frau, die in der Stadt lebte, eine Sünderin, erfuhr, dass er im Haus des Pharisäers zu Tisch war; da kam sie mit einem Alabastergefäß voll wohlriechendem Öl und trat von hinten an ihn heran zu seinen Füßen. Dabei weinte sie und begann mit ihren Tränen seine Füße zu benetzen. Sie trocknete seine Füße mit den Haaren ihres Hauptes, küsste sie und salbte sie mit dem Öl.“ (vgl. Lk. 7, 37f.) Sein Gastgeber sieht verächtlich auf jenes Wesen herunter, weil es seiner Ansicht nach „eine Sünderin“ (ebd.) ist. Jesus hält er im Stillen vor, dass jener überhaupt nicht begreife, von wem er sich die Füße salben lässt. Wenn er ein Prophet sei, müsse Jesus wissen, „was das für eine Frau ist, die ihn berührt: dass sie eine Sünderin ist.“ (vgl. Lk. 7, 39) Christus verurteilt sie nicht – ganz im Gegenteil: „Ihr sind ihre vielen Sünden vergeben, weil sie so viel geliebt hat. Wem aber nur wenig vergeben wird, der liebt wenig.“ (vgl. Lk. 7, 47). Sicherlich ist manches Ansichtssache. Es geht nicht darum, Schlechtes als Gutes zu sehen oder es schönzureden. Manchmal aber darf ich die Kirche im Dorf lassen. Sogar in der St. Mauritius Sekundarschule zu Beginn der Sommerferien.

Erkennen, was richtig und wichtig ist. Dazu brauche ich nicht die überragende Sehfähigkeit eines kleinen Falken. Abzuheben brauche ich nicht und fliegen kann ich ebenfalls nicht. Doch ich darf andere so behandeln, wie ich wünsche, dass sie mit mir umgehen. Nicht nur, wenn ich Fehler gemacht habe. Niemand hat das Recht, auf ihr oder sein Gegenüber egal, wie groß es ist, verächtlich herunterschauen. Weil ich so viel besser bin. Der richtige Blick, der sich nicht von Äußerlichkeiten blenden lässt, hilft zu erkennen, was manchen verborgen ist. Dafür ist es nie zu spät. Nicht mal in den Ferien oder im Urlaub, auf die sich Viele freuen.

Br. Clemens Wagner ofm, Schulseelsorger